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Lob der „Lebenslüge“

aus  Wolf Schneider „Die Wahrheit über die Lüge – Warum wir den Irrtum brauchen und die Lüge lieben“, 2012, rowohlt

„Die gewöhnlichste Lüge“, sagt Nietzsche, „ist die, mit der man sich selbst belügt. Das Belügen Anderer ist relativ der Ausnahmefall.“ Lebenslüge heißt unser Wort dafür, seit der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen es 1885 in seinem Schauspiel „Die Wildente“ populär gemacht hat: der Geschichte des lebensuntüchtigen Hjalmar Ekdahl, der immer „eine Erfindung“ machen will – aber er macht sie nicht, ja er kann nicht einmal beschreiben, welche es denn wäre. Sein Leben verbringt er damit, mit trüben Augen von ihr zu träumen.
Und da kommt nun bei Ibsen der Arzt Dr. Relling und will den Sonderling nicht etwa von seiner Lüge heilen – im Gegenteil, er warnt Hjalmar Ekdahls Sohn davor, den Vater aus seiner Traumwelt zu reißen: „Ich sorge dafür“, sagt er, dass die Lebenslüge in ihm lebendig bleibt, denn sie ist das stimulierende Prinzip! Nehmen Sie dem Durchschnittsmenschen seine Lebenslüge, und Sie nehmen ihm sein Glück.“
Auf viele redliche Menschen wirkt das abstoßend; sie halten es mit Kant, der die „innere Lüge“ verurteilt, weil sie das Heiligste verletze: die Wahrhaftigkeit. Nur dass Kant, wie Ibsen und Nietzsche, eigentlich gerade nicht das Lügen meinen kann: Lügen heißt ja, in Kenntnis des Wahren oder für wahr Gehaltenen bewusst etwas Falsches behaupten. Wer einer „Lebenslüge“ anhängt, kennt die Wahrheit über sich selber gerade nicht; wahrscheinlich will er sie nicht kennen. Er gibt sich also einer Selbsttäuschung hin, einer ILLUSION: Und die sollten wir, wenn überhaupt, mit ebenso viel Vorsicht kritisieren wie die Lüge.
Die mildeste und zugleich die häufigste Form, sich in einer Scheinwelt einzurichten, ist die, dass wir etwas, das wir mit wenig Mühe wissen könnten, nicht zu genau wissen wollen. Der Lottospieler zum Beispiel wäre ja (schon mit einer 4 in Mathematik ) imstande,  zu errechnen, wie lächerlich gering seine Chancen sind – doch er rechnet eben nicht; lieber nimmt er sich seinen Irrtum zum Lebensgefährten. Die Rede war schon von den Autofahrern und den Liebhabern, die sich ganz überwiegend für überdurchschnittlich halten, obwohl das mathematisch nicht aufgehen kann.
Dem verwandt ist unsere Neigung, uns von den guten Vorsätzen, die wir immer mal wieder fassen, nicht tyrannisieren zu lassen. Müssen wir denn unbedingt tun, was wir gesagt, vielleicht uns ernstlich vorgenommen haben? Robert Musil hat die Kluft zwischen Wollen und Machen in der Überschrift zu einem nachgelassenen Kapitel eines „Mannes ohne Eigenschaften“ auf die Formel gebracht: „Warum die Menschen nicht gut, schön und wahrhaftig sind, sondern es lieber sein wollen.“ Ihre Feiertagsgedanken drückten sie ebendeshalb aus, um dadurch des Handels enthoben zu sein. „Sein ist schwieriger und wird deshalb gern durch Worte ersetzt“, sagt C. G. Jung.
Auch gibt es, hundertmal mehr als Genies, solche Menschen, die glauben oder wenigstens hoffen, eines zu sein. Die Starken unter ihnen werden nicht einmal durch die fehlende Anerkennung irritiert: Ist die nicht auch vielen unstreitig genialen Menschen zu ihren Lebzeiten versagt geblieben? So weigern sie sich, ihrem stolzen Selbstbild mit etwas so Brutalem wie der Wahrheit auf den Leib zu rücken. Vielleicht treibt ihre Illusion sie sogar zu einem Ehrgeiz, den sie nicht entwickelt haben würden ohne diese. Das wäre dann eine fruchtbare Lebenslüge.
Wahrscheinlich ist es von vornherein eine unbillige Forderung, dass der Mensch fähig sei und willens sein müsste, auf eine Vorstellung von sich hinzuarbeiten, die seinen wahren Eigenschaften entspricht und noch dazu  von seinen Mitmenschen als angemessen betrachtet würde. Dass dies auch nur möglich wäre, bestreitet schon die Psychoanalyse, und da hat sie recht.  
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